Was fasziniert uns so an Listen?
Ja, was eigentlich?
"Alles hast du nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet", sagt die Bibel lobend über Gott den Schöpfer aller Dinge (Buch der Weisheit 11,21). Aus Chaos wird strukturiertes Weltgeschehen, aus Durcheinander Miteinander, aus Unordnung Gestalt. Und dabei sind Listen ohne Zweifel eine große Hilfe.
Goethe, ein großer Freund von Listen und Tabellen, hatte über seinem Waschtisch eine Geologietabelle und eine Tonlehretafel hängen, ja er tapezierte sich ein ganzes Zimmer, das "Tabellenzimmer", mit Listen aus Geographie und Optik, Biologie und Knochenlehre, sogar Poetik. In seiner "Würdigungstabelle Poetischer Produktionen der letzten Zeit" sammelte er die Ausprägungen verschiedener Kategorien für die Würdigung literarischer Erzeugnisse in Listen; zum Beispiel:
Bequem
Mit Leichtigkeit
Geübte Hand
Überfrei
Mit Bedacht und Sorgfalt
Zart
Männlich
Gewandt
Verständig
Empirisch
Frei und frank
Weich
Frisch
"Wie oft ich nur auch irgendein Heft oder Bändchen durchdenke", schreibt Goethe, "so bin ich doch nicht im Stande mich hierüber ausführlich mitzuteilen. Möge (diese) Tabelle verdeutlichen wie ich mir den Wert von dergleichen Produktionen anschaulich zu machen suche."
Listen, so sah schon Goethe, bringen Ordnung und System in unser Leben, ja sie machen in gewisser Weise ein höheres Leben überhaupt erst möglich. Nicht umsonst sind Intelligenztests voller Listen, in denen jeweils ein Begriff zu finden ist, der in diese Liste nicht hineingehört.
(Wer ist hier falsch: Cäsar, Lincoln, Sadat, Gandhi, Adenauer? Antwort: Adenauer, er wurde als einziger von den fünf nicht ermordert, etc.)
Schimpansen machen keine Listen. Sie brauchen auch keine, denn Schimpansen passen sich passiv an ihre Umwelt an. Aktives Leben heißt, Chaos zu bekämpfen, Ordnung herzustellen, Ordnung vor Zerfall und Tod zu schützen; in diesem Sinn sind Listen unsere Antwort afu den berühmten Entropiesatz der Thermodynamik: alle Materie in abgeschlossenen Systemen strebt, wenn man sie gewähren läßt, zu maximaler Konfusion (wenn Sie das nicht glauben, betrachten Sie einmal ein Kinderzimmer!). Mit Listen wehren wir uns gegen Schlamperei und Vergeßlichkeit (nur Gott im Himmel weiß, wieviele Verkehrsflugzeuge jährlich havarieren würden, wenn es die Checklisten beim Start nicht gäbe), auf Listen sammeln wir Geschenkwünsche für Weihnachten, Adressen von Schulfreunden, Gäste für Geburtsfeste, mit Listen teilen wir, wie Richard Nixon, unsere Mitmenschen in Freunde und Feinde ein. Listen helfen uns, die Welt zu überblicken, aufzuteilen, scheibchenweise besser zu verdauen, Listen sind als Lebenshilfe einfach unentbehrlich.
Diese Nützlichkeit als Werkzeug kann aber die moderne Listen-Mania nicht komplett erklären. Schließlich fasziniert uns ja auch kein Korkenzieher oder kein Bügeleisen. Zu der reinen Nützlichkeit von Listen kommt offenbar noch etwas anderes hinzu, und es ist auch gar nicht schwer zu sehen, was: einmal das moderne, typisch abendländische Bedürfnis, zusätzlich zu einer Zusammenstellung zusammengehörender Dinge auch noch das Beste, Größte, Schlechteste davon zu finden (Hitparaden, Rankings, Bestenlisten), aber auch der rein ästhetische Genuß der Konsonanz verwandter Dinge.
Wir geben gerne zu, daß wir dieser Lust am Aufspüren der Größten, Besten, Schnellsten usw. an vielen Stellen dieses Buches nachgegeben haben. Diese Lust, oder besser: dieses Laster, dieser fast zwanghafte Drang des aufgeklärten Abendländers, verwandte Dinge außer zu sammeln auch nach irgendwelchen Kriterien der Größe nach zu ordnen, ist sicher einer der Hauptgründe, warum heute alle möglichen Listen an allen möglichen Orten wie Pilze aus dem Boden schießen. Die reichsten, mächtigsten, ältesten, jüngsten, klügsten, dümmsten, am häfigsten am Blinddarm operierten Menschen oder Tiere interessieren uns ganz offensichtlich enorm. Hier spiegelt sich der Wettbewerbsgedanke, dem wir Westler tief verhaftet sind, wir wollen wissen, wo wir selber stehen, ob wir "normal" sind oder außergewöhnlich, und diesem Bedürfnis kommen Werke wie das Guiness Book of Records oder The Top Ten of Everything, die wir uns zuweilen erlaubt haben zu zitieren, sehr entgegen.
Ehe wir aber jetzt "die Sucht dieser Gesellschaft, alles Wissen und Scheinwissen >aufzulisten< " (Hans Schuh in der Zeit) allzulaut bejammern, sollten wir auch den zweiten Grund für unsere Listenverliebtheit bedenken, die Freude am Gleichklang, den Genuß, den wir empfinden, wenn wir Dinge, die zusammengehören, auch zusammen sehen. Jeder Briefmarkensammler kennt das Gefühl, wenn die letzte langgesuchte Marke eines Satzes endlich aufgefunden worden ist, und jeder Gebrauchtwagenhändler stellt wenn möglich gleiche Modelle nicht verstreut auf seinen Hof, sondern nebeneinander. In unserem Familienfotoalbum kleben die Bilder von Betriebsausflug, von der Kindertaufe und vom Sommerurlaub nicht wie Kraut und Rüben durcheinander, sondern zusammen, und selbst Kinder sammeln ihre Murmeln gern getrennt nach Farbe, Größe oder Muster. Dieser Drang des Zusammenfügens gleichartiger Dinge ist nicht nur so wie oben ausgeführt für das Überleben nützlich, er befriedigt auch ein ästhetisches Bedürfnis, und in diesem Sinne würden wir uns freuen, wenn möglichst viele Leser die Freude, die wir selber beim Zusammenfassen unserer Listen hatten, mit uns teilten. |